Neben Erschütterung, unendlicher Trauer und bodenloser Fassungslosigkeit bleibt auch 20 Jahre nach dem zurückliegenden ersten Schulmassaker an einer deutschen Schule bleiben immer noch Fragen:
26.04.2002: Erfurt
Bei einem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt tötet der 19-jährige Schüler Robert S. binnen zehn Minuten 16 Menschen und am Ende sich selbst. Unter den Toten sind zwölf Lehrer, die Schulsekretärin, zwei Schüler und ein Polizist. Steinhäuser war ein Jahr vor der Tat von der Schule verwiesen worden.
und
Beide Fragen hängen im Übrigen zusammen. Denn die Suche nach möglichen Ursachen
hängt immer auch zusammen mit
Wissenschaftliche Studien belegen, dass es bislang nicht möglich ist, ein ein-eindeutiges Täterprofil zu erstellen, anhand dessen es möglich wäre, potentielle Schulamokläufer im Vorfeld zu eruieren. Die Psychodynamik der Täter(innen)-(Profile) der bisherigen Amokläufe an Schulen weist bei aller Individualität der Täterpersönlichkeiten allerdings erstaunliche Gemeinsamkeiten im Sinne einer Obermenge auf. Obermenge bedeutet hier: Nicht jeder, der folgende Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale aufweist, ist bereits als künftiger Schulamokläufer zu identifizieren, gleichwohl sind diese Merkmale Teil der Schnittmenge aller bisherigen Täterpersönlichkeiten; es wäre also angebracht, hier von einem Risikoprofil der Psychodynamik zu sprechen:
® des Fehlens von sozialen Bezugspersonen, das Gefühl des Alleingelassenseins gegenüber äußerem Druck, z.B. aus Schulleistungserwartungen und ein sich dabei aufbauender innerer Druck, diesen Erwartungen nicht gerecht werden zu können.
Bei allen Bemühungen um die Klärung, die Frage nach dem „Warum?“ einer solch fürchterlichen Tat, müssen wir derzeit wohl noch mit Axelzucken antworten; immerhin waren einige der Schul-Amoktäter in therapeutischer Behandlung, also unter professioneller therapeutisch-psychologischer Beobachtung. Andere, die „seelenruhig“ in der Familie am Frühstückstisch saßen und danach innerhalb weniger Augenblicke Schusswaffen einpackten und 45 Minuten später 15 Menschen erschossen….
Und „Warum Schulen?“ Warum etwa schießen „Schulamokläufer“ im Schulalter nicht blindwütig im „nächstgelegenen“ Supermarkt um sich?
wen oder was stelle ich dar, bin ich der „Looser“ der Klasse oder bin ich gemocht, gar akzeptiert, geachtet und anerkannt?
kann ich „was ausrichten“, werde ich gefragt und gehört, wenn es um „Weichenstellungen“ in der Klasse geht oder „pfeifen“ die Klassenkameraden auf meine Meinung; gar schlimmer noch, werd´ ich erst gar nicht gefragt, sogar von vorn herein ignoriert / „geschnitten“ ?
was habe ich in mir für ein Bild, wie mich die anderen sehen ? Bin ich davon überzeugt, dass die anderen in mir den Außenseiter, den „Blödmann“ sehen, oder dass die anderen in mir den „Könner“ sehen, einen, dem man zuhört, wenn er den Mund auf macht ?
„Schule der Ort der größten Kränkungen“ (Zitat Dr. F. Robertz) 1)
,wo Minderwertigkeitsgefühle, Ausgrenzung bis hin zum Mobbing eine große Rolle spielen 5)
Mit Schule und in den Mitschülern/innen und in den Lehrerinnen und Lehrern identifizieren sie (die Täter/innen) den Ort und die Personen, die ihnen jene Erfahrungen von „unermesslicher Kränkung“ bescherten, wie sie oben unter I. beschrieben sind. Das ist der Grund, warum sie „IHRE“ Schule mit „IHREN“ Mitschülern und „IHREN“ Lehrern als den Ort der Liquidation, den „Ort der Vollstreckung“, als den Ort der Vergeltung ihrer „größten Kränkungen“ erwählen. Und genau deshalb müssen und können auch alle Amok-Präventionsmaßnahmen hier und nur hier – in der Schule – ansetzen, wenn Maßnahmen und Präventionsprogramme, sich nicht nur als formalstrukturelle Projekte erweisen sollen, heißt: ansetzen am und im Sozialsystem Schule.
Amokläufe an Schulen sind keine abrupten Gräueltaten, sondern stets langfristig geplant und akribisch vorbereitet. Sie beruhen immer auch (aber nicht nur) auf emotionalen Enttäuschungen und zumindest auf subjektiv empfundener „negativer Anerkennungsbilanz“ der Täterin / des Täters 6). Wenn dem so ist, dann kann (muss!) Schule und können (müssen!) Lehrerinnen und Lehrer präventiv, neben der selbstverständlichen Einrichtung von Alarmplänen, Kriseninterventionstrainings, sachlich materiellen Schutzvorrichtungen (die übrigens bundesweit in den meisten Schulen bis dato fehlen) dazu beitragen, dass Schule und Unterricht abseits der Bedeutung von allem Kognitiven, dem Erzielen von Lernfortschritten, dem Erreichen von qualitativen und quantitativen Lernstandards zu den Abschlussprüfungen etc. auch (wieder) zu einem Sozialraum wird, in dem alle Kinder und Jugendliche – und der Anspruch müsste lauten: ohne Ausnahme ! –
Ob dies in der Gesamtheit bereits eine hinreichende Garantie gibt, dass eine Schule vor Amokattacken geschützt ist, bleibt derzeit unbeantwortbar. Ganz sicherlich aber ist dies eine unverzichtbar notwendige Bedingung. Unbestritten aber sind dies Anstrengungen, die absolut in die richtige Richtung weisen (siehe I) und dementsprechend ganz sicherlich auch risikominimierende/protektive Wirkung zeigen.
Dies, die Betonung der besonderen Verantwortung von Schule als Sozialraum, heißt nicht, dass in jenen Schulen, in denen Amokläufe stattfanden, das Schul-Sozialklima besonders desolat gewesen wär. Durchaus undenkbar, dass etwa eine „autistische“ Täterpersönlichkeit gerade in einem Schul-Sozialumfeld mit ausgeprägt positiven Interaktionsstrukturen sich besonders isoliert, am Rand stehend erfährt. Schule ist nie die Ursache von Amoktaten, aber Schule ist jener Lebensmittelpunkt, welchen die Täter für sich als das Zentrum ihrer schwersten Kränkungserfahrungen ausmachten. Und natürlich ist und kann Schule nicht die einzige Sozialraumkomponente sein, das Elternhaus spielt eine ebenso wichtige, wenn nicht sogar wichtigere Rolle. So lassen bisherige Analysen durchaus den Schluss zu, dass Elternhäuser mit fehlender Emotionalität eine negative Entwicklungseskalation zumindest begünstigen.
Eine Schule, die bewusst und stets auf positiv-sozialemotionales Schulklima setzt, befindet sich auch im Sinne von Schulqualität, Professionalität und Unterrichts- und Lernwirksamkeit, damit in „bester Gesellschaft“. Wissenschaftliche Untersuchungen, wie die von Andreas Helmke (Universität Koblenz-Landau), die bis in die 90er Jahre zurück gehen, aber auch neueste Studien (Andreas Helmke, Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität, 2008) 2) bestätigen:
Neben Klassenführung und Adaptivität gehört
das positive sozial-emotionale Schulklima
zu den drei unverzichtbaren Intentional- und Struktursäulen einer professionellen, schülerorientierten und lernwirksamen Schul- und Unterrichtskultur, heißt in der Praxis:
Die Kriminologen lehren uns, dass sich jede delinquente Tat / jeder kriminelle Übergriff in/ mit 3 Parametern vollständig und abschließend erfassen, beschreiben und sich folglich auch nur hierüber modifizieren, im optimalsten verhindern lässt:
Motiv – Mittel – Gelegenheit
Gelegenheit:
Das sind etwa fehlende Alarmsysteme, Amokfall-Verhaltenstrainings, bauliche Präventionsmaßnahmen (variable Schließsysteme an Klassentüren…). Hier ist sofort erkennbar, dass dieser Parameter ein nur begrenztes Lösungs-/Verhinderungspotential ermöglicht, denn jede sachlich-materielle Be-/Verhinderung zieht erfahrungsgemäß sehr bald auch Mittel und Wege zu deren Überwindung nach sich.
Mittel:
Dies betrifft die Diskussionen z.B. um den erschwerten Zugang zu Schusswaffen gerade für Jugendliche / junge Erwachsene.
Am Ende bleibt die Motivmodulation:
Wir haben in und an unserem Schulsystem in den letzten Jahren bundesweit viel reformiert (übrigens: ausschließlich bedingt durch die wiederholt desaströsen PIS-Ergebnisse!); vieles, was längst überfällig war.
(z.B. Zentralabitur)
Aber auch die darauffolgenden Schulmassaker in Ansbach, Winnenden… konnten wir nicht verhindern. Vielleicht ist es dies – die Bedeutsamkeit des positiven sozial-emotionalen Schulklimas in Schulen wieder absolute Priorität zu verleihen- der zweite, bislang vielleicht vernachlässigte Punkt auf dem ü, der Reformbemühungen, den der ehemaliger NRW-Kultusminister Jürgen Girgensohn (1970 – 1983) im Hinblick auf die Wirksamkeit von Schulreformen sehr treffend, aber auch Betroffenheit auslösend, bereits vor 50 Jahren so formulierte: 3)
„Wenn es uns gelänge, lediglich Entmutigungen aus unseren Schulen zu verbannen,
wäre dies die effizienteste Schulreform und jene, die den Namen wirklich verdiente!“
Und dies ist gleichzeitig auch Chance für uns als Bildungseinrichtungen in freier Trägerschaft. Wer, wenn nicht wir, die Privatschulen und insbesondere die Privatschulen im VDP, und die an ihnen tätigen Pädagoginnen und Pädagogen könnten manch anderen Schulen im Lande in genau diesem Sinne vorbildlicher vermitteln, dass diese Prinzipien schülerorientierter Pädagogik die Condicio sine qua non einer „guten Schule“ sind? Ist es nicht genau dies – die schülerorientierte Pädagogik an Privatschulen, die Qualität und Professionalität eines umfassenden Schulkonzeptes – die uns in den letzten Jahren zunehmenden Zuspruch und Bestätigung beschert haben?
Autor:
Dr.h.c.Biegert, Hans, geb.1949, Diplomstudiengang Mathematik-Informatik, 1978 Gründung der (§118 SchG NRW) staatl. anerk. HEBO-Privatschule in Bonn, seither Schuldirektor u. Schulträger, Konzeptualisierung dieser Schule als Gesamtschule bes. pädagog. Prägung zur Förderung von Kindern mit ADHS u. Teilleistungsstörungen, Seit 1993 Mitglied im VDP. Seit 2005 ferner Dozent an der Aus-u. Fortbildungsakademie zu Entwicklungsstörungen u. emotionalen Störungen im Kindes-u. Jugendalter, Wien. Seit 2007 ferner Lehrbeauftragter der psych. Fak. der staatl. Moskauer Regionaluniversität, 2007 Verleihung der Ehrendoktorwürde. Seit 2008 ferner Dozent der Lehrerakademie des Querenburg-Institutes, Bochum. Seit 2010 ferner Dozent der Techn. Universität Chemnitz-Education Masterstudieng. Lerntherapie, Seit 1995 mehr als 100 Publikationen zu „ADHS u. Schule“ u.a., Seit 2000 Beteiligung an mehr als 40 wissensch. Studien /Arbeiten zu gleichen Themen . Email: hans.biegert@hebo-schule.de
Quellennachweis:
auch unter https://www.general-anzeiger-bonn.de/index.php?k=loka&itemid=10001&detailid=591013
Artikel als pdf: Amoklauf an Schulen
Fotonachweis: S. Hofschlaeger / pixelio.de